Trauergruppe

Fundstücke

Ach, diese entsetzliche Lücke

 

Joachim Meyerhoff, Autor und Schauspieler, im Interview mit Franziska Wolffheim über die frühen Verluste seines Bruders und seines Vaters, seine Trauer und das sich ändernde Leben 

 

Sein Bruder starb mit 20 Jahren bei einem Autounfall. Sein Vater starb mit 62 Jahren an Krebs.

 

Die Journalistin Franziska Wolffheim fragte ihn unter anderem:

 

„Konnten Sie Ihrem Vater Trost geben?“

 

Joachim Meyerhoff: „Die Familie war das Tröstlichste überhaupt für ihn. Wir hatten immer eine sehr ausgeprägte Gesprächskultur, haben uns gegenseitig befeuert und Stichworte gegeben. Dadurch haben wir ihn auch ein bisschen ablenken können. Es gab eine Kontinuität, jenseits der Krankheit. Es ist gut, wenn Gewohnheiten und Rituale beibehalten werden, in welchen Lebensbereichen auch immer.“

 

F. W.: Wie war es für Sie, als Ihr Vater schließlich starb?

 


J. M.: „Da war Kummer, ja, aber in erster Linie Erschöpfung, vor allem physisch. Das ganze Haus hatte sich in eine Krankenstation verwandelt. Jetzt war es endlich vorbei. Als ob sich eine geschlossene Faust, in der ich lange Zeit gelebt hatte, endlich öffnete. Der Tod meines Vaters war der Beginn der Heilung, ich fühlte mich ein Stück weit erlöst.

 

F. W.: Wie weit darf man sich das Gefühl von Erleichterung zugestehen?

 


A. M.: Man darf es sich mehr als zugestehen. Ich hatte damit überhaupt kein Problem. Ich habe mich für meinen Vater gefreut, dass es zu Ende war, er wollte nicht mehr weiterleben.

 

(…)

F. W.: Sie haben das Glück, die Menschen, die Ihnen nahe sind, durch Schreiben zurückholen zu können. Gibt es auch andere Möglichkeiten?

 

A. M.: Ich merke an mir, dass man lernen kann, sich immer besser und genauer zu erinnern. Das ist etwas sehr Schönes. Auch wenn man nicht schreibt, kann man zurückdenken: Wie war das Frühstück bei uns? Man stößt dabei auf Szenen, die man schon kennt. Aber die Erinnerung kann auch nach etwas greifen, das vielleicht noch diffus ist. Plötzlich kann man etwas aus dem Nebel ziehen, und das Bild des verstorbenen Menschen vervollständigt sich. Man stößt womöglich auf komische Seiten des Verstorbenen, und das macht ihn lebendiger. Man kann ihn sich wirklich zurückholen, auch wenn die Erinnerungen störrisch sind, sich widersetzen. Häufig erkennt man einen Menschen erst nach dem Verlust als den, der er war.

 

F. W.: Was hält uns davon ab, uns bewusst zu erinnern?

 

A. M.: Wahrscheinlich die Angst, dass der Schmerz uns wieder einholt. Es ist nicht gut, wenn wir aus Angst vor dem Kummer die Erinnerungsfähigkeit kappen.

(…)

F. W.: Sind Sie an den Verlusten, die Sie erlebt haben, gewachsen?

 

A. M.:  Ich stelle mir manchmal vor, wer ich geworden wäre, hätte ich diese Verluste nicht erlebt. Früher war ich ein einfach gestrickter Mensch, der mit wenig zufrieden war. Ich hätte mir durchaus vorstellen können, in Schleswig Sportlehrer oder Polizist zu werden – mein Vater wollte immer, dass ich Polizist werde. Wenn ich mir das jetzt vor Augen führe, möchte ich mich auf den Boden werfen und allen Mächten danken, dass es nicht so gekommen ist. Ein Verlust kann auch eine Aufforderung sein, sein Leben neu zu überdenken, ein anderer zu werden. Wir versuchen, unser Bewusstsein im Yoga-Studio oder in der Therapie zu erweitern, aber im Alltäglichsten von der Welt, dem Tod, sehen wir nicht die Chance, uns mit den großen Fragen zu beschäftigen. Durch die Verluste ist mein Leben bestimmt intensiver und wertvoller geworden.

 

F. W.: Aber der Preis ist hoch.

 

A. M.: Immens! Das ist ein unauflöslicher Konflikt: der Verlust auf der einen, die persönliche Weiterentwicklung auf der anderen Seite. Wenn ich die geliebten Menschen, die ich verloren habe, wiederbekommen könnte, wäre ich dafür gern Polizist in Schleswig geworden.

 

(…)

F. W.: Ihre Großeltern, bei denen Sie ein paar Jahre gelebt haben, sind in hohem Alter gestorben. Haben Sie da auch diese Leere empfunden?

 

A. M.: Es war schrecklich, weil meine Großeltern für mich ein Zuhause waren und wir uns sehr gemocht haben. Aber ich hatte nicht dieses Gefühl der Ratlosigkeit, der existenziellen Bedrohung. Ich denke, es gibt im Sterben so etwas wie ein ungeschriebenes Drama. Beim Unfalltod meines Bruders war es maximal, beim Tod meines Vaters immens, bei meinen Großeltern doch überschaubarer. Trotzdem passiert es mir hin und wieder, dass mich die Trauer um meine Großeltern wieder einholt.

 

F. W.: Weil die Trauer eigene Gesetze hat.

 

A. M.: Genau. Trauer ist ein schlingpflanzenartiges Gewächs, sie ist lebendig, verändert sich, kann einen sogar überwuchern. Sie ist unberechenbar und schlägt auch dann zu, wenn man meint, man habe sie zurechtgestutzt.

 

(…)

F. W.: Sind Sie durch die Todesfälle, die Sie erlebt haben, hypochondrischer geworden?

 

A. M.: Nein. Ich fühle mich sehr lebendig und insgesamt vom Leben beschenkt.

 

F. W.: Auch durch die Menschen, die Sie verloren haben?

 

A. M.: Auf jeden Fall. Sie waren alle sehr besondere Menschen, die mir viel gegeben haben. Mein Vater war zum Beispiel ein sehr guter Zuhörer, er hat sich wirklich für das interessiert, was man tat. Es ist gut, sich die Dankbarkeit immer wieder bewusst zu machen. Dadurch lässt sich der Kummer etwas besser ertragen.

 

 

Aus: Stern GESUND LEBEN; Heft 1/2016, Seite56 bis 59.

Die Bücher von Joachim Meyerhoff haben die Titel:

 

„Alle Toten fliegen hoch. Amerika“ (2011)

 

„Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ (2013)

 

„Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ (2015)

 

Alle Titel sind im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen.