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Fundstücke

"Wer liebt, ist besonders kreativ"

 

Evelyn Finger im Gespräch mit dem Philosophen Wilhelm Schmid über Inspiration, Ideen, den Heiligen Geist und die schöpferische Kraft der Sexualität. Erschienen in der "Zeit" Nr. 20 vom 13. Mai 2015, Seite 58. In Auszügen hier wiedergegeben.

 

DIE ZEIT: Herr Schmid, haben Sie eine Droge, um Ihre Kreativität zu steigern?

 

Wilhelm Schmid: Einige! Die erste ist Espresso. Er setzt Serotonin frei, das aktiviert die Synapsen zwischen den Neuronen: So entstehen interessante Gedanken. Bei der anderen Droge zögere ich, aber Sie wollen ja die Wahrheit: Sex ist für mich Inspiration ersten Ranges. Außerdem: Sauna.

 

ZEIT: Sauna?!

 

Schmid: Ja. Erst sitzt man in der Gluthitze, dann geht man in die Eiseskälte. Das regt den Kreislauf an, Körper und Seele fühlen sich hinterher vollkommen wohl. Da sprießen die Gedanken.

(...)

ZEIT: Worin besteht der Unterschied zwischen Kreativität und Inspiration?

 

Schmid: Kreativität ist zunächst nur ein Zustand, Offenheit für das Erstaunliche und Überraschende. Inspiration ist ein Geschehen. Etwas fährt in mich.

 

ZEIT: Und wie ist das nun beim Sex? Ihre Thesen zu Platon oder Michel Foucault entstehen, Pardon: im Bett? Empfehlen Sie uns Lust statt Lektüre?

 

Schmid: Wenn es guter Sex ist, natürlich. Sex setzt Hormone frei. Von Neurobiologen weiß ich: Das berühmte Serotonin, das vielleicht der Heilige Geist von heute ist, regt das Denken an und lässt uns neue Zusammenhänge sehen. Oxytocin, das Bindungshormon, schlägt durch in Gefühlen wie Geborgenheit. Bei meiner Arbeit erlebe ich das so: Im Manuskript gehen die Thesen noch kunterbunt durcheinander. Aber nach einer erotischen Begegnung ist mir plötzlich klar, was ich sagen will. Ich empfange eine Inspiration.

 

ZEIT: Goethe sagt: "In einem Augenblick gewährt die Liebe, was Mühe kaum in langer Zeit erreicht."

 

Schmid: Es gibt natürlich auch die seelische und die geistige Ebene der Liebe. Wir suchen nach Beziehungen, von denen wir im Denken und Fühlen berührt werden. Liebe setzt schöpferische Kräfte frei. Wenn der Körper dominiert, erholt sich der Kopf.

 

ZEIT: Was ist das für ein "Ich", so ganz ohne Kopf?

 

Schmid: Ich unterscheide das gern, indem ich sage: Entweder "Ich" denke oder "Es" denkt. Wenn "Ich" denke, denke ich gezielt über etwas nach. Bis zu einem Punkt ist das ergiebig. Aber noch viel ergiebiger ist, wenn ich den Gegenstand meines Nachdenkens in den Hintergrund rücke und "Es" denken lasse. Für uns Philosophen ist das bedeutsam, denn in der Philosophiegeschichte kam es immer auf das "Ich" an. Cogito, ergo sum: Ich denke, also bin ich.

 

ZEIT: Der Satz von Descartes ist bis heute populär.

 

Schmid: Meine Erfahrung ist aber eine andere. Wenn der Kopf zu stark beteiligt ist, also das bewusste "Ich", wird das nichts. Schalte ich aber den Kopf aus, kann sich Sinnlichkeit entfalten.

 

(...)

ZEIT: Leben wir heute eigentlich in besonders erotischen, also kreativen Zeiten?

 

Schmid: Kreativität ist eine heilige Kuh unserer Zeit. Denn sie erschließt Möglichkeiten. Die erlauben uns, eine Wirklichkeit hinter uns zu lassen und eine neue ins Auge zu fassen. Das heißt im Privaten: Wir erträumen neue Beziehungen und lassen lästig gewordene hinter uns. In der Wirtschaft: Wir wollen neue Produkte erfinden und müssen daher Ideen kreieren. Kreativität ist heute das am meisten gesuchte Gut. Die Sehnsucht danach begann aber schon in der Zeit der Romantik, vor zweihundert Jahren.

 

ZEIT: Allerdings wollten die Romantiker nicht Ideen generieren, um die Wirtschaft anzukurbeln.

 

Schmid: Für mich ist nicht entscheidend, ob ein Kreativer höhere Absichten verfolgt oder nur ein neues Produkt bewerben will. Ich betrachte die Kreativität als Erschließen von Sinn. Wenn wir uns verlieben, stellt keiner mehr die Frage nach dem Sinn. Dafür gibt es nur einen Grund: In diesem Moment haben wir den Sinn des Lebens erfasst. Gegenprobe: Was geschieht, wenn ich verlassen werde? Dann frage ich nach dem Sinn. Ich bin mir dann sogar sehr sicher, dass das Leben gar keinen Sinn hat. Verliebte hingegen fühlen sich erfüllt – nicht nur von Sinn, sondern auch von Energie. Liebe schenkt Sinn. Und diese Erfahrung schafft einen Zustand voller Kreativität.

 

ZEIT: Gilt das nicht auch umgekehrt?

 

Schmid: Aber ja! Wenn wir etwas Kreatives machen, erfahren wir Sinn.

 

(...)

 

ZEIT: Glauben Sie an einen Schöpfergott?

 

Schmid: Ich glaube an etwas. Aber was? Dieses Etwas muss so grundlegend sein, dass davon sämtliches Leben abhängt. Wir bemerken das, wenn wir vor einem toten Menschen stehen, den wir gekannt haben. Sein Körper ist vollständig da, aber der Mensch ist weg. Etwas Wesentliches muss sich verändert haben. Aber was?

 

ZEIT: Sein Körper ist nicht mehr beseelt!

 

Schmid: Ich habe zeitweilig nebenher in einem Krankenhaus gearbeitet. Danach konnte ich das Etwas benennen: Energie. Dass einer lebendig ist, lässt sich mit Apparaten messen in Form von elektrischer Energie. Wenn diese Energieströme abreißen, ist der Mensch tot. Wenn ich nun an den Energieerhaltungssatz denke: Energie kann nur umgewandelt werden, nicht aber erzeugt oder vernichtet – dann bin ich dem Etwas auf der Spur. Etwas war immer da und wird immer bleiben. Das klingt jetzt ein bisschen religiös: Ein Mensch kann nicht leben ohne diese Energie. Trotzdem gibt es die Energie ohne den Menschen. Was ist also wesentlich: der Mensch oder die Energie? Eindeutig die Energie. Sie unterliegt nicht derselben Endlichkeit wie wir Menschen. Sie kommt nicht aus dem Nichts und geht auch nicht ins Nichts. Wenn sie aber das Wesentliche des Toten war, heißt das, das Wesentliche des Menschen stirbt nicht.

 

ZEIT: Warum nennen Sie es nicht Seele?

 

Schmid: Ich bin ein vorsichtiger Philosoph. Auf "Etwas" können sich viele einigen. Allerdings – das ist langweilig. Deshalb sprechen alle Kulturen der Welt, außer der modernen heute, von Seele. Man kann darüber streiten, ob damit eine persönliche Seele gemeint ist oder eine Weltseele. Ich glaube, die persönliche Seele hat Anteil an der allgemeinen Seele, die reine Energie sein könnte. Möglicherweise könnte ein Gleichheitszeichen gesetzt werden zwischen dieser Energie und Gott.

 

ZEIT: Warum sprechen Sie dann nicht von Gott?

 

Schmid: Weil nicht klar ist, wer oder was das sein soll. Welche Eigenschaften hat dieser Gott? Dass die Theologie ihm menschliche Eigenschaften wie Güte zuspricht, ist für mich leider nicht überzeugend. Es liegt nahe, dass das menschliche Projektionen sind.

 

ZEIT: Und was halten Sie vom Heiligen Geist?

 

Schmid: Der wiederum leuchtet mir sehr ein. Inspiration heißt, dass etwas in mich fährt und dann in Form eines Gefühls oder einer Idee aufblitzt. Es ist ein energetisch angeregter Zustand. Das wird jeder Künstler, jeder Wissenschaftler, jeder Ingenieur, möglicherweise auch jeder Politiker bestätigen, der eine Inspiration hat.

 

ZEIT: Ist es für den Inspirierten von Belang, woher die Inspiration kommt?

 

Schmid: Nein. Ich habe mich intensiv mit den Kirchenvätern auseinandergesetzt, denn das waren Philosophen, die sich sehr abstrakte Gedanken über Inspiration machten. Aber auch Atheisten wissen aus dem Alltag, was ein inspirierter Zustand ist. Wir fühlen uns erfüllt, vergessen zu essen, können Nächte durcharbeiten. Woher kommt die Energie? Ich kann mir nur einen Raum vorstellen: den Kosmos.

(...)

ZEIT: Die Jungen suchen Gott im Computer?

 

Schmid: Nein, sie erleben dort Unendlichkeit. Denn das Internet vermittelt mehr als jeder andere menschengemachte Raum diesen Eindruck. Man kann dafür auch in die Kirche gehen, aber junge Menschen gehen lieber ins Netz.

 

ZEIT: Der Ort des Geschwätzes als Ort der Transzendenz?

 

Schmid: Natürlich. Sie können dort endlos schwatzen, endlos suchen. Sie kommen nie an Grenzen.

 

ZEIT: Und macht das nun kreativ – oder nur müde?

 

Schmid: Es ist höchst schöpferisch, wenn man aus unendlich vielen Möglichkeiten Inspiration schöpfen will. Der Heilige Geist weht heute nicht mehr im Himmel, sondern in Kalifornien.

ZEIT: Im Silicon Valley?

 

Schmid: Ja, dort kommen dauernd neue Ideen.

 

ZEIT: Warum?

 

Schmid: Vielleicht wegen des andauernden Miteinanders so vieler Experten in derselben Sache. Ich habe gerade eine Statistik gelesen, wo Menschen angegeben haben, was ihre Kreativität am meisten befördert: Zwei Drittel nannten das Gespräch mit Freunden. Ich kann das bestätigen. Als Autor achte ich darauf, nicht einsam am Schreibtisch zu sitzen, sondern meine Texte mit vertrauten Menschen zu besprechen. Was ist ein Gespräch? Ein gefühlter, ein geistiger Zusammenhang. Indem wir unsere Gedanken hin und her gehen lassen, gehen wir aus uns heraus. So entstehen neue Ideen.

 

ZEIT: Was sind Ihre Inspirationsquellen aus der Vergangenheit?

 

Schmid: Für mein jüngstes Buch über Gelassenheit ging ich zurück in die antike Philosophie und wurde fündig bei Epikur: Er prägte den wunderschönen Begriff der ataraxía , der Nicht-Unruhe. Das beschreibt genau, was ich mit Gelassenheit meine: eben nicht Ruhe, sondern weniger Unruhe. Das ist ein sehr lebhafter Zustand, aber kein hysterischer. Vor Kurzem las ich bei Seneca vom homo occupatus . Viele moderne Menschen könnten sich darin wiederfinden: viel beschäftigt sein, aber keine Zeit für das Wesentliche haben.

 

ZEIT: Was war noch mal das Wesentliche?

 

Schmid: Energie.

 

ZEIT: Stimmt. Bitte ein paar Synonyme!

 

Schmid: Intensität, Seele, Heiliger Geist, Gott. Aber ich sage am liebsten: das Göttliche.

 

Der Philosoph Wilhelm Schmid schrieb die Sachbücher "Liebe", "Gelassenheit" und "Vom Glück der Freundschaft".