Fundstücke
Wo lernen wir zu trauern?
Miriam Meckel beschreibt in "Brief an mein Leben" Erfahrungen mit einem Burnout und hält während ihrer Auszeit Gedanken über das Sterben und unseren Umgang mit Trauer fest.
"Ich kann nicht gut weinen, konnte es nicht mal als Kind wirklich frei. Als mein Lieblingsonkel gestorben ist, war ich dreizehn. Ich habe ihn sehr gemocht, weil er anders war, als Verwandte es oft sind – langweilig und erzieherisch. Er nicht. Er hat in unserer unmittelbaren Nachbarschaft gelebt, alleine, zumindest war er nicht verheiratet. ,Junggeselle‘ wurde das in der Generation meiner Eltern genannt, und ich habe es so gelernt. Aber ich habe auch sehr früh verstanden, dass mein Onkel nicht ,alleinstehend‘ ist; dass er ein soziales Leben, auch ein Liebesleben hat und dass in diesem Leben Platz war für viele Dinge, Gedanken und Gefühle, die mich Nähe zu ihm haben fühlen lassen.
Meine Mutter hat ihm geholfen, sein Leben in den Griff zu bekommen, weil Männer ja nicht waschen und bügeln können und so alleinstehend auch sonst verwahrlosen. Weil in der Generation meiner Eltern irgendwie niemand darüber nachdachte, dass sie es vielleicht doch lernen können. Aber auch weil meine Mutter immer hilfsbereit war, gegenüber anderen mehr als gegenüber sich selbst. Ich habe schon als Kind meinen Onkel regelmäßig besucht, meist eine Tüte mit frischgewaschenen und gebügelten Hemden neben mir herbalancierend, und ich habe das, anders als viele sonstige Hilfsdienste im Haushalt, gerne gemacht. Wir haben geplaudert, es gab Orangensaft und Kekse. Oder er hat mich im Auto mit in die Stadt genommen bei offenem Fenster und lauter Musik, und ich habe mich großartig gefühlt – erwachsen und ernst genommen und einfach lebensfroh.
Dann wurde er krank, eine schwere Hepathitis, und starb nach wenigen Monaten. Ich habe nicht weinen können. Nicht, als ich erfuhr, dass er so krank war, nicht an dem Tag, als er starb, nicht einmal bei der Beerdigung. Ich wollte es, aber irgendetwas in mir hat es nicht zugelassen. Nach der Beerdigung, als alle weg waren, ist es dann aus mir herausgebrochen, unaufhaltsam und unendlich. Als ob eine Schleuse aufgebrochen wäre. Ich war danach so erschöpft, dass ich tagelang fast nur geschlafen habe.
Woher kommt das Weinen? Ich frage das meine Ärztin, und sie fragt zurück: ,Haben Sie jemals richtig getrauert über die Verluste, die Menschen, die Sie verloren haben?‘ Ich kann auf diese Frage nicht antworten, nehme sie nach dem Gespräch mit auf mein Zimmer und denke immer darüber nach. Ich versuche, die Frage zu fassen, das ist schon schwer genug. Aber die Antwort? Trauern? Ich weiß gar nicht, ob ich das jemals getan habe. Ich weiß gar nicht, wie das geht.“
Frage: Habt ihr das Trauern gelernt? Habt ihr vor dem Tod des Partners schon mal getrauert?
(...)
„Meine Mutter wurde 77 Jahre alt. An dem Tag, als ich verstand, dass sie sterben würde, saß ich an ihrem Bett und streichelte ihre Hand. (…)
An diesem Tag habe ich verstanden, dass meine Mutter sterben musste. Es gibt kein Leben ohne ein Ende. Vielleicht ist das besonders schwer zu verstehen, wenn man als Kind erlebt, wie ein Elternteil stirbt. Die Mutter, die immer da, immer stark, immer fürsorglich war und einen groß gemacht hat. Sie wird kleiner, weniger sichtbar und verschwindet schließlich ganz. (…)
Meine Mutter war eine starke Frau. Klar in ihren Haltungen zum Leben, die ich oft nicht teilen konnte, hart in ihrer Bewertung menschlicher Fehler, die ich gerne entschärft hätte, verlässlich in der Sorge und Zuwendung für die ganze Familie, aus der ich mein bisheriges Leben lang sehr viel Kraft geschöpft habe, ohne dass es mir wirklich bewusst gewesen wäre.
Ich weiß jetzt sehr genau, dass ich mir in Phasen meines Lebens viel zu wenig Gedanken darüber gemacht habe, warum meine Mutter so ist, wie sie ist. Ich denke jetzt sehr viel darüber nach. Und ich frage mich, warum es mir so schwerfällt zu trauern, die Trauer und die damit verbundenen Gefühle zuzulassen, sich ihnen auszusetzen, auch um sie irgendwann annehmen zu können. Auch dieses Nicht-trauern-Können steht in unmittelbarer Beziehung zu meiner Mutter. Sie hat ihr Leben lang versucht, stark zu sein, das Leben anzunehmen und zu bewältigen. Manchmal im Wortsinne – es war zuweilen eine gewaltige Anstrengung für sie, das Leben zu akzeptieren.
Bei uns zu Hause wurde nicht getrauert. Trauer ist ein Gefühl. Man muss es zulassen können. Erst mal muss man es zulassen lernen. Meine Eltern haben das nie wirklich gelernt. Sie sind Kriegskinder. Sie sind mit Angst, Verzicht und Entbehrungen aufgewachsen. Auch ihre Eltern hatten vermutlich nie gelernt, Gefühle zuzulassen, haben nie trauern gelernt. Woher sollen meine Eltern es können? Woher sollte ich es lernen? Keine Gefühle zu zeigen, das gilt häufig als Zeichen der Stärke. Deshalb erscheint Trauern im Umkehrschluss als Schwäche. Wenn das aber so ist, verweigern wir uns aus vermeintlichem Zwang zur Stärke bewusst oder unbewusst einem wichtigen psychologischen Prozess, ohne den wir krank werden können. Wer nicht trauern kann, kann mit dem Tod nicht umgehen. Und wer mit dem Tod nicht umgehen kann, wird auch nicht glücklich sein im Umgang mit dem eigenen Leben.“
(S. 117, 118, 119)
(...)
„Ich hatte noch nie einen Menschen gesehen, der gestorben ist, außer im Kino oder im Fernsehen. Als ich Geschichten von anderen Menschen, entfernten Bekannten darüber gehört hatte, fand ich sie gruselig. In der Wohnung aufgebahrte Väter, Mütter oder Töchter, denen alle Angehörigen und Freunde der Familie noch einen letzten Besuch abstatteten.
An meiner Mutter fand ich nichts dergleichen. Ich setzte mich genauso an ihr Bett wie all die Tage zuvor, streichelte genauso ihre Hand. Ich weiß, dass ich darüber nachgedacht habe, ob sie das wohl noch irgendwie spüren, wahrnehmen wird. Ob sie womöglich jetzt über dem Bett schwebt und diese Szene beobachtet, so wie ich es in vielen Büchern gelesen hatte als Berichte einer Schwellenerfahrung von Menschen, die schon im Übergang vom Leben zum Tod waren und dann zurückgeholt wurden.
Meine Mutter wurde nicht zurückgeholt. Sie hatte die Schwelle zum Tod endgültig überschritten. Ich betrachtete sie sehr, sehr lange und dachte immer wieder: Jetzt ist sie ihren Schmerzen und ihren körperlichen Leiden entwischt. Ich glaube, dieser Moment war für mich so etwas wie ein Schockzustand. Nicht weil das Schreckliche, der Tod nun eingetreten war, sondern weil dieser Augenblick wie ein Erlösungsmoment nach Wochen der dauerhaften völligen Anspannung war. Ich glaube, ich war auch ein wenig erleichtert darüber, dass ich merkte: Ich kann diesen Moment, diese Erfahrung aushalten. Ich schaffe das. Und mein Vater und meine Schwester werden es auch irgendwie schaffen.“ (S. 129/130)
Zitate aus Miriam Meckel: „Brief an mein Leben. Erfahrungen mit einem Burnout“. Reinbek 2010, 4. Auflage, Rowohlt, Seiten 117, 118, 119 und ab Seite 129)