Trauergruppe

Fundstücke

Eine funktionstüchtige Willkommensstruktur

 

Johann Claussen, 51, Hauptpastor in Hamburg, schreibt im Spiegel Nr. 52/2015 über die Bibel - ein Flüchtlingsroman. Dort gefallen mir die Ausführungen zum Mitgefühl und die Passage mit der Aufforderung zu handeln. 

 

Er schreibt zum Thema gelebte Gastfreundschaft und wie schwer es den Völkern oft gefallen ist:

 

"Wie aber soll man das schaffen? Wie soll man in dieser unbedingten Weise Gutes tun, Gastfreundschaft üben, Fremden helfen? Darauf gibt das Neue Testament keine Antwort, die sich direkt auf die Gegenwart beziehen ließe.

 

Aber es weist auf zwei Grundempfindungen und Grundhaltungen hin, die hilfreich wären.

 

Sie wirken scheinbar wie Gegensätze, ergeben aber erst zusammen ein sinnvolles Ganzes. Das eine ist die Bereitschaft und Fähigkeit, „sich jammern zu lassen“. So erzählen es die Evangelien regelmäßig von Jesus. Wenn ihm ein kranker Mensch oder eine Not leidende Menge begegnete, dann „jammerte es ihn“. Das heißt, ihr Jammer wurde zu seinem. Er empfand ihren Schmerz so, als wäre es sein eigener. Dieser spontane Impuls unterscheidet sich von dem, was heute häufig als „Mitleid“ bezeichnet wird. Es ist kein Bemitleiden, in dem ein Nichtbetroffener sich zu einem Betroffenen hinabbeugt, wobei er selbst keinen echten Schmerz empfindet, sondern nur eine sentimentale Rührung, verbunden mit dem stolzen Selbstgefühl der eigenen Empathiefähigkeit. Wen es „jammert“, dem tut die Not des anderen direkt weh und der begibt sich auf dieselbe Ebene wie der Notleidende, um ihm dann das zu geben, was dieser braucht – still, klug und pragmatisch, ohne größere Gefühlsaufwallung, ohne viel Aufhebens davon zu machen, ohne Dankbarkeit einzufordern.

 

Aber das „Jammern“ ist nur ein momentanes Gefühl. Es kann sich verflüchtigen, erlahmen, ermüden und dann in sein Gegenteil umschlagen. Deshalb ist es gut, noch an eine andere Tugend zu erinnern. Oft nämlich ermahnen die Autoren der neutestamentlichen Briefe die ersten Christen, „besonnen und nüchtern zu sein“ (1. Petrus 4,7). Dies wird vielen schwergefallen sein, erwarteten sie doch unmittelbar das Ende der Welt. Nicht wenig werden von ihrer apokalyptischen Sehnsucht berauscht und wie betrunken gewesen sein. Ihnen wurde wieder und wieder eingeschärft, zu wachen, nüchtern zu sein, besonnen zu handeln, geduldig zu bleiben.

 

Auch diese Mahnungen liest man heute mit anderen Augen. Denn jetzt, da es weniger auf eine sentimental aufgeladene Willkommenskultur, sondern eher auf eine funktionstüchtige Willkommensstruktur ankommt, könnte – neben dem „Sich-jammern-Lassen“ – eine gute Portion urchristlicher Nüchternheit hilfreich sein."

 

Quelle:

Titel des Artikels: "Weltgeschichte der Heimatlosigkeit", Autor: Johann Claussen, 51, Hauptpastor in Hamburg.

aus dem Spiegel Nr. 52/2015, S. 132 bis 134

zitiert die letzten Passagen auf Seite 134