Trauergruppe

Fundstücke

"Ich habe Gott angeschrien, warum er dieses arme Würstchen so quält"

 

Im Chrismon Heft 12 erzählen Familien mit schwer kranken Kindern, wie es ihnen gelingt zu leben, mit dem Tod fast immer in Sichtweite. Sie beschreiben ihre tägliche Trauer und Verzweiflung, aber auch Erfahrungen mit ihrer Umwelt, die denen von Trauernden sehr ähneln. Deshalb möchte ich hier eine Geschichte, die vom Vater Torsten P., wiedergeben.

 

„Wir schauen uns die Fotos kaum noch an, da läuft es mir kalt den Rücken herunter. Als Lara zweieinhalb war, sagte sie immer wieder: „Ich bin so schlapp.“ Sie hatte Augenringe und viele blaue Flecken an den Beinen, oft Fieber. Der Kinderarzt sagte, das sei so in dem Alter, wir sollten uns keine Sorgen machen. Aber als sie hinfiel und an der Hüfte ein riesiges Hämatom bekam, dachten wir, das ist doch nicht normal!

 

Am 28. August 2009 bestanden wir auf eine Blutuntersuchung; der Arzt fand die Vene in Laras Arm nicht, das Kind schrie, ich fragte: „Ist es Leukämie?“ Und er antwortete: „Nein, nein!“ Aber er rief uns am selben Abend an, da hatte er schon die Ergebnisse, Lara saß in der Badewanne, der Arzt sagte: „Fahren sie sofort ins Krankenhaus, es ist lebensbedrohend.“ Ab da drehte sich alles nur noch um Leukämie, Chemotherapie, Leukozyten, Thrombozyten, Nebenwirkungen...

 

Nach dem ersten Schock wurden wir so wütend! Was haben wir verbrochen?, haben wir uns immer wieder gefragt. Ich habe Gott angeschrien, warum er dieses arme Würmchen so quält, warum er nicht mir diese Krankheit geschickt hat. Aber nach sechs, sieben Wochen haderte ich nicht mehr so sehr. Wenn man immer nur die Antwort auf das Warum sucht, hilft unserem Kind das ja auch nicht.

 

Acht Monate lang war Lara im Krankenhaus, manchmal durfte sie ein paar Tage nach Hause. Jessica, meine Frau, war immer bei ihr; ich musste arbeiten – das war schlimm, so abgeschnitten von den Geschehnissen in der Klinik. Ich bekam Panikattacken, mir schnürte es immer öfter den Hals zu. Was ist, wenn sie stirbt?, diesen Gedanken konnte ich nicht aushalten. Früher habe ich viele Nachtschichten gerissen, um mir noch eine Uhr leisten zu können oder noch einen tollen Urlaub; um das Haus ganz schnell abzubezahlen. Aber wozu das alles, wenn das Kind so krank ist?

 

Nach der flüssigen Chemo bekam Lara noch bis August 2011 Chemotabletten. Gerade ist sie fünf geworden. Ihre Haare sind wieder da, schulterlang und ganz dick. Sie geht in den Kindergarten, sie rennt herum, fährt Fahrrad, sie liebt es, sich die Nägel zu lackieren, ein richtiges Mädchen. „Ich war mal ganz doll krank“, erzählt sie manchmal. Dass man an Leukämie sterben kann, haben wir ihr nicht gesagt, dazu ist sie zu klein.

 
Lara wünscht sich ein Geschwisterchen. Vielleicht würde sich dann nicht mehr alles um die Krankheit drehen. Aber wir warten noch ein bisschen; seit es mit Lara bergauf geht, fühlen wir uns schlecht. Die Leute sagten oft zu uns: „Wir wünschen euch viel Kraft.“ Da dachte ich immer, Lara braucht Kraft, nicht wir. Ich weiß nun, was sie meinten: Zwei Jahre lang liefen wir auf Hochtouren, wir können nicht mehr. Bei meiner Frau flammt immer wieder Gürtelrose auf, ich habe ein Burn-out-Syndrom, warte auf eine Kur.

 

Heute hören wir von Bekannten: „Was regt ihr euch auf, seid froh, dass es Lara wieder gutgeht.“ Aber die Sorgen bleiben, erst nach zehn Jahren kann man von Heilung sprechen! Mittlerweile liegt die Überlebenswahrscheinlichkeit bei 87 Prozent. Trotzdem kriecht die Angst hoch, alle vier Wochen, wenn wir in die Uniklinik müssen. Sind die Werte wieder schlechter? Neulich meinte meine Frau: „Die hat doch Augenringe!“ Dann atmen wir tief durch und sagen uns: Viele Kinder haben mal Augenringe.

 

Wir haben gelernt, wie wichtig die Familie ist, Laras Großeltern, die Tanten und Onkels, auf alle konnten wir uns verlassen. Aber von unseren Freunden sind nur zwei geblieben, alle anderen haben wir verloren. Manche haben einmal eine Karte geschrieben, sich dann nie wieder gemeldet. Keiner sagte: Wollen wir mal einen Kaffee trinken, mal reden? Oder: Ich geh mal mit eurem Hund Gassi, dazu habt ihr bestimmt keine Zeit im Moment.

 

Ein Gutes hat Laras Krankheit: Mein bester Freund hat sich für die Deutsche Knochenmarkspenderdatei typisieren lassen; nun hat er einen Anruf bekommen, dass er als Spender infrage kommt – vielleicht kann er einem Menschen das Leben retten.“

 

 

Alle Geschichten können Sie nachlesen im Chrismon Heft 12, 2011 auf den Seiten 12 bis 21.