Fundstücke
„Ich bin erst mit Mitte 70 ein wirklicher Mensch geworden“
Friederike Mayröcker, Schriftstellerin, lebt schreibend, in der Welt ihrer Texte. Das Interview mit ihr, so empfindet es Tobias Haberl, war eher eine seelische Sitzung als ein Gespräch mit einem Journalisten.
Friederike Mayröcker zählt zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen unserer Zeit. Sie hat ihr ganzes Leben in Wien verbracht, wo sie von 1954 bis 2000 mit Ernst Jandl zusammenlebte. Ihre letzten beiden Bücher heißen „Von den Umarmungen“ und „Ich sitze nur grausam da“.
Tobias Haberl:
Sie werden im Dezember 88 Jahre alt. Fällt Ihnen das Leben schwerer als noch vor zehn Jahren?
Friederike Mayröcker:
Ja, mit 77 war ich noch ziemlich frisch. Im Moment habe ich eine Arthrose an den Füßen. Ich kann nicht mehr rasch gehen. Dicke Bücher schaffe ich auch nicht mehr. Ich bin langsam geworden. Gott sei Dank nicht beim Denken und Schreiben. Ich arbeite jeden Morgen, bis ich spüre, dass ich aufhören muss, weil der Blutdruck auf 200 ist.
„Körperruine“, „Monster im Spiegel“ – kommt alles in Ihren Texten vor.
So nehme ich mich nun mal wahr, und es gefällt mir nicht. Trotzdem bin ich nur äußerlich das alte Weib, das durch durch die Straßen humpelt, innerlich bin ich immer noch das 17-jährige Mädchen, das in Deinzendorf barfuß über die Wiese läuft. Ich glaube, ich habe eine Kinderseele. Kann man das so sagen?
Stört Sie das Alterwerden?
Ja, man sieht es mir nicht an, aber ich bin furchtbar eitel. Wenn ich vor 20 Jahren einen Preis bekommen habe, bin ich sofort in die Stadt und habe mir was Hübsches gekauft. Ich war verrückt nach Mode. Aber heute? Eine fast Hundertjährige, die sich Mode kauft, das wäre obszön. Glauben Sie mir, Älterwerden ist furchtbar. Männer haben es nicht so schwer. Denken Sie mal an Samuel Beckett. Würden Sie den auch fragen, wie alt er ist und ob er ein Problem damit hat? Eher nicht.
Warum nicht?
Weil alte Männer, vor allem Künstler, mehr Würde haben als wir Frauen. Haben Sie Becketts Gesicht vor Augen? Was hat dieser Mann für eine Würde besessen.
Er hatte das Glück, gut zu altern.
Und welche Künstlerin ist gut gealtert? Mir fällt keine ein. Und ich selbst schaffe es auch nicht. Sie wissen, dass ich 50 Jahre mit dem Schriftsteller Ernst Jandl zusammengelebt habe? Er war in den letzten Jahren sehr von Alter und Krankheit gezeichnet, aber es war ihm egal, er hat sogar Scherze darüber gemacht. „Schau mal, wie ich ausschaue“, hat er immer gesagt.
Ein paar Jahre nach seinem Tod im Jahr 2000 sagten Sie: „Die Lücke schließt sich nicht.“ Hat sie sich inzwischen geschlossen?
Sagen wir so, das Gefühl ist milder geworden. Kurz nach seinem Tod war ich davon überzeugt, sie mehr schreiben zu können, so ausgeleert war ich. Heute ist er punktuell sogar bei mir. Er kommt, wann er will, oft für eine halbe Stunde, dann ist er ganz da, sodass ich ihn spüren kann. Wissen Sie, kurz bevor er gestorben ist, habe ich ein paar ganz gute Gedichte geschrieben und hatte keine Ahnung, dass er zwei Tage später nicht mehr da sein würde. Was für eine Gefühllosigkeit, oder? Das kann man nur Gefühllosigkeit nennen. Ich war so innig mit ihm und habe nicht gespürt, dass es seine letzten Tage sind.
Kommt es vor, dass Sie ihn um Hilfe bitten?
Ja, wenn ich was nicht finde, eine Tasse oder Schere, dann sage ich: „Ernst, wenn du noch irgendwo bist, mach, dass ich dieses Ding finde.“ Ich kann mich noch gut an einen Sommerabend erinnern, wenige Wochen nach seinem Tod. Ich war zu Hause und hatte alle Fenster offen, als eine riesige Libelle zum Fenster hereingeflogen kam. Sie flog durch den Raum, versteckte sich in einer Ecke und blieb da, bis sie zu einer Mumie geworden und vertrocknet ist. Damals habe ich geglaubt, dass er das ist.
Vermissen Sie ihn?
Natürlich, ich habe eine riesige Sehnsucht nach Liebe, ich verliebe mich auch ständig. Als Ernst noch gelebt hat, hat er das aufgefangen. Heute kommt die Liebe ganz plötzlich, meistens über die Augen, über den Blick. Ich verliebe mich in Menschen und Tiere, ganz egal, ob sie mich wiederlieben. Das macht mir nichts aus. Ich will ja gar nichts von denen.
Kommt es vor, dass Sie mit 87 Jahren Dinge auf einmal ganz anders sehen als Ihr ganzes Leben zuvor?
Ich glaube, dass ich heute mehr vom Leben und den Menschen verstehe. Ich bin erst mit Mitte 70 ein wirklicher Mensch geworden. Vorher war ich egoistisch, ohne Mitgefühl für meine Mitmenschen, vor allem für meine Mutter, die ich heiß geliebt habe. Trotzdem, wenn ich bei ihr war und sie mich gebeten hat, noch ein bisserl zu bleiben, bin ich nach Hause, um zu schreiben. Kurz vor ihrem Tod hat sie gesagt: „Weißt du, Friederike, eigentlich habe ich nur für dich gelebt.“
Hatten Sie deswegen ein schlechtes Gewissen?
Ja, weil ich gemerkt habe, dass es die Wahrheit ist. Trotzdem konnte ich meinen Schreibdrang nicht abstellen. Oft musste ich einen Absatz unbedingt zu Ende bringen, dabei hätte sie sich so gefreut. Dreißig Minuten hätten gereicht. Nur ein bisserl sitzen bleiben. Ich habe es nicht geschafft.
Sie waren besessen vom Schreiben.
Ich bin es immer noch, aber früher war ich egoistisch, und je weiter ich zurückdenke, desto rücksichtsloser sehe ich mich. Heute habe ich keine Familie mehr. Alle sind gestorben.
Fühlen Sie sich einsam?
In manchen Stunden ja, vor allem am Wochenende, wenn die Geschäfte geschlossen haben und keine Post kommt. Dann kann es arg sein. Ich kriege so gern Post. An solchen Tagen werde ich mir meiner Einsamkeit bewusst. Dann schreibe ich Briefe oder gehe spazieren. Manchmal versuche ich, jemanden anzurufen.
Warum versuchen?
Weil ich gehemmt bin. Eigentlich will ich niemanden belasten. Kann doch niemand was dafür, dass es mir elend geht. Wissen Sie, manchmal bin ich eine Raunzerin. Dann jammere ich, wie alt ich bin und dass es sicher bald aus sein wird. Ich werde dann von einer Sentimentalität überfallen, dass ich mich sofort hinsetzen und schreiben muss, um dieses Gefühl wegzudrücken.
Sind Sie traurig, dass Sie keine Kinder haben?
Natürlich wäre es schön, jetzt einen Sohn oder eine Tochter zu haben, aber ich bereue nichts, weil ich sonst mein Schreiben bereuen müsste, und das tue ich nicht, weil ich ohne Schreiben nicht leben kann, (…)
(...)
Sie haben mal gesagt: „Ich komme beim Schreiben so nah an die Wirklichkeit heran, dass es mir den Atem verschlägt.“
Wenn ich schreibe, kommt mir das, was ich beschreiben will, so nahe, als ob es mir gegenübersitzt. Oft heule ich beim Schreiben, weil ich mich so gut in alles hineinversetzen kann. Menschen, Tiere, ganz egal, mit allem, was mir nahe ist, kann ich mich völlig identifizieren. Ich bin dann dieses Ding.
So viel Empathie kann auch belasten.
Ich kann nicht sagen, dass es mir Freude macht, aber es befriedigt mich. Wenn ich durch die Straßen gehe, schauen mich alle Hunde an. Und jeder dieser Hunde ist mein Hund, ja eigentlich bin ich es selbst, der da traurig aus dem Fell rausschaut. Ich kann sehen, wenn Hunde weinen, egal ob Mensch oder Ding, alles spricht zu mir.
Auch die Natur?
Ja. Gestern habe ich einen riesigen Baum im Volksgarten gesehen, der war so majestätisch und überwältigend, dass ich fast heulen musste. Ich habe drüber nachgedacht, was zwischen diesen Zweigen alles lebt: die Vögel, die Käfer. Ich habe den Baum eine halbe Stunde angeschaut. Weil dieser Baum – der bin ich ja auch.
Was würde passieren, wenn Sie eines Tages nicht mehr schreiben können?
Ich würde depressiv werden. Ich bete jeden Tag, dass ich weiterschreiben kann. Ich arbeite seit Monaten an einem Buch, das ich einfach nicht abschließen kann. Es ist fertig, glaube ich, aber ich traue mich nicht. Ich bin außerstande, mir vorzustellen, was danach kommt.
Wovor haben Sie Angst?
Vor dem Tod.
Weil Sie nicht mehr da sind oder nicht mehr schreiben können?
Beides. Wir wissen nicht, was nach dem Leben geschieht, aber wahrscheinlich kann man nicht das machen, was man gerne macht.
Woran hängen Sie?
An der Natur. Sie ist etwas, in das ich mich hineinsteigern kann, weil sie so uneitel ist. Bäume und Tiere sind so uneitel.
Außer dem Pfau.
Der ist auch uneitel. Es liegt in seiner Natur, ein Rad zu schlagen. Wirklich, ich bin verliebt in die Natur, vor allem in die Abfolge der Jahreszeiten. Immer wieder kommt ein Frühling, und noch ein Frühling, und noch ein Frühling und noch ein Sommer und noch ein Herbst. Ich lebe so gern. Der Abschied wird mir schwerfallen.
Tobias Haberl beendet das Interview mit einem weiteren Zitat von Friederike Mayröcker aus dem Jahr 2009:
„ … nur nicht enden möge diese Seligkeit dieses Lebens nur nicht enden ich
habe ja erst angefangen zu schauen zu sprechen zu schreiben zu weinen …“
Das vollständige Interview lesen Sie im Magazin der „Süddeutschen“ vom 14. September 2012 auf den Seiten 42 bis 47.