Fundstücke
"Halt auf freier Strecke"
Andreas Dresen hat einen Film über das Sterben gedreht. In der "Spiegel"-Rezension heißt es unter anderem:
In dem Film "erzählt der 48-jährige Regisseuer von dem Berliner Familienvater Frank (gespielt von Milan Peschel), der mit Anfang 40 sein Todesurteil hören muss. Ein Arzt erklärt ihm, dass er einen Gehirntumor hat und in ein paar Monaten sterben wird. Der Rest des Films ist Agonie; ein bitteres, aussichtsloses, verlustreiches Rückzugsgefecht des Lebens gegen den Tod.
Dresen zeigt den Verfall, über 100 Minuten lang, den körperlichen und den geistigen, Schmerzattacken, Tobsuchtsanfälle. Es gibt zig Gründe, sich diesen Film zu ersparen, aber zwei Gründe, ihn sich anzuschauen: ,Halt auf freier Strecke' ist einfach grandios; und es könnte sein, dass er seine Zuschauer zu stärkeren Menschen macht.“ (…)
„Er wird nicht mehr da sein, wenn sie sie (seine Kinder die Weihnachtsgeschenke) auspacken. Diese Gewissheiten sind absolut qualvoll. Und doch kann es sein, dass die Dinge, wenn man weiß, dass man sie zum letzten Mal erlebt, eine geradezu ungeheuerliche Intensität gewinnen. Obwohl Frank schon sehr geschwächt ist, schläft er ein letztes Mal mit seiner Frau Simone (Steffi Kühnert). Dresen zeigt nur, wie sich die beiden ineinanderkrallen, ihre Gesichter, gezeichnet von größter Verzweiflung und größtem Glück, und man begreift, worum es beim Sex letztlich geht: darum, sich ganz und gar im anderen aufzulösen.
Den Liebesfilm gibt es als Genre, den Todesfilm nicht. Dabei erzählt das Kino mindestens so häufig vom Tod wie von der Liebe, aber sie lieben lange im Kino, und sie sterben schnell. Dresens Film, der sich in eine Ausschließlichkeit mit dem Sterben beschäftigt wie kaum ein Film vor ihm, zeigt, wie der nahende Tod eine große Liebe gebiert: zwischen Frank und seiner Familie. (…)
„Doch während er sich in einen anderen Menschen verwandelt, in einen, den man leicht hassen kann, schafft es die Familie, in ihm immer noch den Mann zu erkennen, der er war. Das ist der heroische Kampf, von dem der Film erzählt.
Am Ende lieben Simone und die Kinder Frank mehr denn je. Es ist furchtbar, wenn man seine eigene Identität verliert. Es ist beglückend zu wissen, dass die anderen sie für einen bewahren können. (…)
„Dresen gönnt seinen Zuschauern kaum einen Augenblick der Behaglichkeit. Als Frank die CD eines Hypnotiseurs einlegt und auf dem Sofa der wohligen Stimme lauscht, folgt ein rüder Schnitt auf seine Tochter, die gerade im Hallenbad von einem Turm ins Wasser springt. Der Film ist extrem schnell: Es ist das Tempo, mit dem Frank stirbt. Es ist das Tempo, mit dem das Leben seiner Familie weitergeht.
,Wirst du sterben?’, fragt Mika seinen Vater, als der schon auf dem Totenbett liegt. Frank wendet den Kopf und nickt. ,Kann ich dann dein iPhone haben?’, fragt der Junge. Wenn Kinder etwas wirklich wissen wollen, finden sie auch einen Weg, es zu ertragen.“
Die Rezension schrieb Lars-Olav Beier und ist zu lesen im „Spiegel“ Nr. 46 vom 14.11.2011 auf den Seiten 153 und 154.