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Fundstücke

Stell dir vor, deine Erinnerungen werden gelöscht!

 

Der Psychologe Daniel Kahnemann, 78, forschte sein ganzes Leben über die Irrtümer, denen das Denken unterliegt. Er ist der Einzige, der je einen Nobelpreis für psychologische Forschung erhielt.  

 

 

Im "Spiegel"-Interview sagt er über unser Denken, seine Schwächen und unsere trügerischen Erinnerungen unter anderem:

 

Spiegel:  Man kann doch jedes schlimme Erlebenis wie im Film wieder und wieder durchleben.

 

Kahnemann: Das können Sie, keine Frage. Aber was Sie am ende bewerten oder auch, was Sie in Zukunft fürchten werden - das ist eben dieser besonders intensive Moment und nicht die ganze Episode. Ähnlich ist das übrigens bei Tieren.

 

Spiegel: Wie können Sie das wissen?

 

Kahnemann: Das ist leicht zu erforschen, etwa an Ratten, denen man leichte elektrische Schocks verabreicht. Dabei ändert man der Reihe nach jeweils deren Dauer und Stärke. So lässt sich messen, wovor die tiere sich mehr fürchten. Und das ist natürlich die Stärke, nicht die Dauer.

 

Spiegel: Das heißt, die Erinnerung formt auch die Erwartung an die Zukunft?

 

Kahnemann: So ist es. Das zeigt schon ein kleines Gedankenspiel, zu dem ich gelegentlich auffordere: Stell dir vor, du gehst auf eine Urlaubsreise, und am Ende bekommst du ein Medikament, das deine Erinnerungen tilgt. Alle Fotos werden natürlich ebenfalls gelöscht. Würdest du dieselbe Reise machen? Oder doch lieber eine, die weniger strapaziös ist? Manche Leute sagen, in so einem Fall würden sie überhaupt nicht verreisen. Sie verzichten also lieber auf den Genuss, obwohl dieser ja vom nachträglichen Löschen völlig unberührt bliebe. Es ist eben nicht das Erleben in Echtzeit, das am Ende zählt. Es ist die Erinnerung daran.

 

Spiegel: Warum müssen wir unser Leben unbedingt als Sammlung von Erinnerungen, von Episoden und Geschichten vorstellen?

 

Kahnemann: Weil das nun mal alles ist, was wir vom Leben behalten. Die Jahre gehen vorbei, und Sie bleiben zurück mit nichts als Ihren Geschichten. Deshalb glauben die Leute, Erinnerungen seien ungeheuer wichtig. Sie übertreiben ihren Wert.

 

Spiegel: Aber im Urlaub ist es doch nicht egal, ob ich mich, von ein paar Höhepunkten abgesehen, die meiste Zeit entsetzlich langweile.

 

Kahnemann: Natürlich nicht. Und wenn ich Sie frage, ob Sie lieber drei Minuten lang Schmerzen erdulden wollen oder fünf Minuten, ist die Antwort ebenso klar. Aber im Rückblick gewinnt die Urlaubsreise, die die besten Erinnerungen in Ihnen hinterließ. wie lange Sie sich zwischen den Höhepunkten gelangweilt haben, spielt dann keine Rolle mehr.

 

(...)

 

Kahnemann: Das erinnernde Ich bestimmt über unser Leben. Schon wenn wir etwas planen, eine Urlaubsreise oder sonst ein Vorhaben, nehmen wir dabei die Erinnerungen vorweg, die wir uns davon versprechen. Das erlebende Ich, das dafür vielleicht eine Menge erdulden muss, hat dabei nichts zu sagen. Mehr noch: Was das erlebende Ich genossen hat, kann im Rückblick völlig entwertet werden.

Mir erzählte mal jemand, er habe sich unlängst eine wunderbare Symphonie angehört, aber leider erklang ganz am Ende der Aufzeichnung ein schrecklich kratzender Misston. Das habe ihm das komplette Erlebnis ruiniert. Ist das nicht eigenartig? In Wahrheit blieb das Hörerlebnis der Symphonie zuvor von dem Kratzer am Schluss natürlich völlig unberührt - ruiniert war ausschließlich die Erinnerung daran.

 

Spiegel: Gilt das auch für ein ganzes Leben? Zählt nur, wie es ausgeht?

 

Kahnemann: In gewissem Sinne schon. Wir können nicht anders, als das Leben retrospektiv zu betrachten. Was wir tatsächlich erleben, ist nicht so wichtig - entscheidend ist, dass es sich im Rückblick gut macht. Es gab da mal einen Versuch, die Teilnehmer sollten das Leben einer fiktiven Frau bewerten, von der sie nur wussten: Sie lebte sehr glücklich, aber dann starb sie bei einem Unfall. Erstaunlicherweise spielte für die Bewertung überhaupt keine Rolle, ob sie mit 30 Jahren oder erst mit 60 Jahren umkam. Aber wenn man den Probanden sagte, die Frau habe 30 glückliche Jahre gelebt, gefolgt von 5 nicht ganz so glücklichen - dann sanken plötzlich die Werte. Oder stellen Sie sich einen Wissenschaftler vor, der eine wichtige Entdeckung gemacht hat, einen glücklichen und erfolgreichen Mann - und nach seinem Tod stellt sich heraus: Diese Entdeckung war ein Irrtum, sie ist nichts wert. Das verdirbt die ganze Geschichte, obwohl sich am Leben des Forschers nicht das Geringste verändert hat. Aber er wird Ihnen nun leidtun.


Das ganze Interview lesen Sie im "Spiegel" Nr. 21/2012 von Seite 108 bis 112.