Trauergruppe

Fundstücke

"Einen Freund, der einem wirklich zuhört, haben die wenigsten"

 

Seit 20 Jahren spricht Jürgen Domian nachts eine Stunde mit den Menschen - nun möchte er seine Radio- und Fernseh-Talksendung beenden, um auch selbst mal wieder Tageslicht zu erleben. In seinem Gespräch mit Sven Michaelsen im "Süddeutschen-Magazin" offenbart Domian viele Trauerbegleiter-Qualitäten. Oder anders herum: Wir müssten viele seiner Interviewhaltungen an den Tag legen. Die mir wichtigsten Antworten habe ich zusammengefasst:

 


SZ-Magazin: Ihr Lebensthema ist der Tod. Wann begann diese Obsession?


Jürgen Domian: Mit zwölf oder 13. Ich begriff, dass wir endlich sind, und grübelte stundenlang über Fragen wie: Werden tote Kinder im Jenseits nie erwachsen? Können die Toten mich sehen? Wie sehen Tote aus? Wann sterben meine Eltern? Wie sterbe ich? Kann man Toten etwas mitteilen? Wenn ich abends schlafen ging, packte mich die Angst, im Schlaf zu sterben und am nächsten Morgen tot im Bett zu liegen.



Haben Sie Hilfe gesucht?


Im Konfirmandenunterricht hatten wir einen charismatischen Pastor, der mir erklärte, dass Gläubige den Tod nicht fürchten müssen, weil sie im Paradies das ewige Leben erwartet. Durch die Strahlkraft dieses Mannes wurde ich fanatischer Christ. Mein ganzes Leben war bestimmt vom Glauben. Ich las die Bibel hoch und runter, ging zu jeder Gelegenheit in die Kirche und betete morgens, mittags und am Abend. Auf alle existenziellen Fragen fand ich die Antwort in der Heiligen Schrift, und meine Angst vor Tod und Sterben löste sich auf wundersame Weise auf.



Mit 15 verteilten Sie vor der Kirche selbstgedruckte Flugblätter, auf denen Sie mit flammender Emphase dazu aufriefen, zum wahren und lebendigen Glauben zu finden.


Mein Fanatismus ging so weit, dass ich ahne, was in religiös motivierten Attentätern vorgeht. Ich war besessen von der Richtigkeit meines Glaubens und wollte, dass alle Menschen die Welt so sehen wie ich. Es machte mich zornig, sonntags die braven Gummersbacher Bürger in schicken Klamotten und Pelzmänteln in die Kirche wackeln zu sehen. Ich verachtete diese Leute, weil ich ihnen unterstellte, dass sie nicht mit Leib und Seele Jesus Christus verbunden sind, sondern nur aus bürgerlicher Tradition in den Gottesdienst gehen. Deshalb jagte in meinem Flugblatt eine Beschimpfung die nächste. Ich kam mir groß und mutig vor, denn ich hatte Jesus vor Augen, wie er die Händler aus dem Tempel trieb. Das fand ich super. So wollte ich auch sein.

Wie lange hielt Ihr Fanatismus?
Bis ich 20 wurde. Ich wollte Theologie studieren, aber kurz vorher brach alles zusammen. Im Philosophieunterricht im Gymnasium hatte ich mitbekommen, dass die größten Kritiker des Christentums Ludwig Feuerbach und Friedrich Nietzsche sind. Ich dachte, du musst deine Gegner kennen, also lies die beiden. Ich war so selbstherrlich zu glauben, dieser Kampf auf höchstem Niveau würde meinen Glauben nur noch stärker machen. Aber je mehr ich mich in ›Das Wesen des Christentums‹ und ›Der Antichrist‹ vertiefte, desto mehr Risse bekam das Fundament meines Glaubens. Plötzlich musste ich vor der Frage kapitulieren, warum dieser angeblich liebende Gott es zulässt, dass ein Kind behindert geboren wird oder eine junge Mutter stirbt. Dieser egoistische Gott erschien mir auf einmal als ein von Menschen gemachtes Konstrukt. Mich hätte ein Gott beeindruckt, der sagt: »Ich liebe dich, aber was geht das dich an?« Ich fand es plötzlich so klein, dass dieser Gott etwas von mir erwartet und ständig sagt, du sollst, du musst. Ich stand vor dem Nichts. Gott war weg, der Tod hatte wieder Macht über meine Gedanken und verdunkelte mein Leben. Es gab kein Gut und Böse mehr und keinen Trost, eine Katastrophe.

Ihr Vater war Hausmeister, Ihre Mutter Putzfrau. Das prädestiniert einen nicht dafür, Nietzsche und Feuerbach zu lesen.
Mein Vater wurde mit 17 in den Krieg geschleudert und kam mit schweren Traumata zurück. Dadurch konnte er nie etwas lernen. Ich sollte es mal besser haben, aber ich war ein schlechter Schüler, der sich im Unterricht verängstigt zurückhielt. In der Hauptschule, die ich besuchte, kamen fast alle Kinder aus einfachen Verhältnissen, trotzdem gab es klare Hierarchien. Das Kind der Kassiererin sah auf das Kind der Putzfrau herab. Gelernt haben wir diese Hackordnung von unseren Vorbildern, den Lehrern. Ich wurde vom ersten Schuljahr an wie das Letzte behandelt, während das Kind der Kassiererin schon einen Tick bevorzugt wurde. Ein Lehrer war als Kapitän des VfL Gummersbach ein prominenter Mann, aber er hatte das pädagogische Talent einer Bratwurst. Er verteilte Kopfnüsse und demütigte die Schwachen. Als ich bei einer Erdkundefrage versagte, schrie ein anderer Lehrer, ob ich denn nur Hasenscheiße im Kopf hätte. Dann ging er genüsslich durch die Klasse und sagte: »Der Jürgen kann noch nicht mal einen Putzlappen richtig auswringen. Wir sollten ihn Doofian nennen.«

Nach Handelsschule und Fachoberschule bekamen Sie mit 18 die Genehmigung, ein Gymnasium zu besuchen.
Das war mein Lebensglück. Als ich im Arbeitsamt Gummersbach die Idee formulierte, auf ein Gymnasium zu wechseln, haben die mich fast ausgelacht: Greif mal nicht nach den Sternen, Junge, mach lieber eine Lehre. Gott sei Dank habe ich nicht auf diese Sesselpuper gehört und mich trotzdem bei Gymnasien beworben. Nach zwei ernüchternden Absagen saß ich vor Horst Kienbaum, dem Direktor des Gymnasiums Grotenbach. Dieser feine Mensch sagte einen Satz, den ich mein Lebtag nicht vergessen werde: »Einen Fall wie Sie hatten wir noch nie. Aber wenn Sie bereit sind, in den nächsten drei Jahren auf Ihre Freizeit zu verzichten und nur zu lernen, dann kommen Sie.« Die ersten Monate waren ein Erweckungserlebnis. Ich las zum ersten Mal einen Roman und ging zum ersten Mal in die Oper. Die Lehrer förderten mich, und bei den Schülern war ich sofort akzeptiert. Es war ein ungeheurer Triumph für mich, dass ich schon ein Jahr später zum Schülersprecher gewählt wurde. Auch Ärztesöhne, die mich früher nie gegrüßt hatten, weil ich Hauptschüler war, gaben mir ihre Stimme.
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Ob Mann oder Frau, haben Sie je mit einem Menschen zusammengelebt?


Nein. Ich bin von Natur aus ein Einzelgänger. Ich habe es immer geliebt, mich auf jemanden zu freuen. Ich wollte nicht den Alltag, das Sockenwaschen, die Frage, wer putzt das Klo? Es gab viel Zusammensein, aber nie ein Zusammenleben. Heute denke ich, vielleicht würde das doch gehen.

Ihre Livesendung Domian läuft von montags bis freitags und beginnt nachts um eins. Wie leben Sie mit diesen Arbeitszeiten?


Ich stehe je nach Schlafqualität zwischen zwei und drei am Nachmittag auf. Dann folgen zwei Stunden mit Frühstück und ausgiebiger Zeitungslektüre. Gegen halb sechs beginnen die ersten Verpflichtungen, die mit der Sendung zusammenhängen. Gegen 23 Uhr fahre ich ins Studio. Wenn die Sendung um zwei zu Ende ist, gibt es eine Stunde Nachbesprechung mit dem Team. Um viertel nach drei bin ich zu Hause. Dann beginnt eine schwierige Zeit. Ich habe schon alles Mögliche ausprobiert, um schneller ins Bett zu gehen, aber ich kann es nicht. Trotz aller Routine bin ich adrenalingeflutet, wenn ich aus der Sendung komme. Deshalb wird es dann fünf, halb sechs.

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Was machen Sie, wenn Ihre Sendung Sommerpause hat?


Früher bin ich immer in den Süden gefahren. Seit zwölf Jahren fahre ich mit meinem Auto fast 3000 Kilometer Richtung Norden und wandere in Lappland durch die Wildnis. Dort ist es 24 Stunden am Tag hell. Ich bin für mich allein und schweige. Es ist wie Exerzitien halten. Nur in der Stille hört und sieht man genau, auch sich selbst.



Domian läuft seit 20 Jahren. Wie groß ist Ihr Team?


Es gibt einen Hörfunktechniker, einen Ablaufregisseur, einen Redakteur, einen Psychologen für Notfälle und drei Leute am Telefon. Wir sind die kleinste Fernsehsendung Deutschlands. Ich schminke mich selbst und kümmere mich auch um die Beleuchtung.


Die Telefonnummer von Domian wird pro Sendung 30 000 Mal gewählt. 150 Anrufer kommen durch und werden abgecheckt, ob sie eine interessante und glaubwürdige Geschichte zu erzählen haben. Mit sechs Anrufern sprechen Sie in Ihrer 60-minütigen Sendung. Kann man Menschen in zehn Minuten helfen?


Die Hilfe findet meist jenseits der Worte statt, indem man einfach da ist und aufmerksam zuhört.

Wie viele Menschen rufen Sie aus Motiven wie Exhibitionismus, Narzissmus oder Geltungssucht an?


Natürlich gibt es Anrufer, die bloß mal für ein paar Minuten bekannt sein wollen, aber zwei Drittel suchen einen Gesprächspartner, weil sie einsam, verzweifelt oder in Not sind. Denen bietet unser Format eine Art mediale Seelsorge. Die Botschaft ist: Ich höre dir zu, auch wenn die anderen dich widerlich, pervers und krank finden. Je intensiver das Gespräch ist, desto mehr vergessen die Leute, dass sie nicht im Beichtstuhl sitzen, sondern ein paar hunderttausend Zuhörer haben.



In seinem Roman ›Der Circle‹ schreibt Dave Eggers: »Leiden war nur dann Leiden, wenn es in Stille, in Einsamkeit geschah. Schmerz, der in der Öffentlichkeit ertragen wurde, vor den Augen von Millionen Menschen, war kein Schmerz mehr. Er war Verbundenheit.« Ist es dieser Mechanismus, der Ihre Sendung so erfolgreich macht?


Ja, aber für uns sind auch Exhibitionisten wichtig, die Spaß daran haben, eine ausgefallene Sexgeschichte zu erzählen. Domian ist eben auch ein Entertainmentformat. Ohne die Selbstdarsteller würde es zu finster und traurig werden.


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Kulturkritiker behaupten, dass wir trotz immer mehr Kommunikationsangeboten immer einsamer werden. Richtig?


Nein. Nach meiner Beobachtung war die Einsamkeit vor 20 Jahren genauso groß wie heute. Sobald es um schicksalhafte Dinge geht, sind viele von uns allein. Einen Freund, der einem wirklich zuhört, haben die wenigsten. Das ist sehr traurig, aber so ist das Leben.



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Welche Schicksale werden von Ihren Mitarbeitern aussortiert, obwohl sie stimmen?


Bei uns rufen immer und immer wieder Menschen an, die Sachen sagen wie: »Ich habe 50 Schlaftabletten genommen und will mit Domian reden.« Dann laufen bei uns Lebensrettungsmaßnahmen an. Auf Sendung kommen diese Anrufer nie.



Warum zeichnen Sie Ihre Sendung nicht am Nachmittag auf? Dann könnten Sie vor Mitternacht im Bett liegen.


Was man tagsüber übertüncht, bricht nachts auf. Die Nacht öffnet die Seelen. Die Dunkelheit wirft uns auf uns selbst zurück und potenziert Empfindungen. Wer verzweifelt ist, ist es nachts doppelt und dreifach. Für diese Menschen sind wir die Kerze im Fenster.


Sind Sie privat auch der verständnisinnige Zuhörer, oder kommt da eine redewütige Rampensau zum Vorschein?


Wenn es so wäre, dann wäre ich in der Nacht eine Kunstfigur. Vielleicht bin ich völlig verblendet, aber ich behaupte, ich bin privat derselbe Mensch.

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Welcher Anruf bringt Sie heute noch zum Weinen?


Bei uns meldete sich eine Mutter, deren Kind entführt, sexuell missbraucht und ermordet worden war. Sie saß gefangen in ihrer Wohnung, weil draußen Boulevardreporter lauerten. Ihren Mann und ihr zweites Kind hatten Verzweiflung und Schmerz stumm gemacht. Da sie mit niemandem über ihre Not sprechen konnte, rief sie unsere Nummer an. Wir haben fast 30 Minuten lang miteinander telefoniert. Jeder Medienprofi sagt Ihnen, es ist ein Unding, im Fernsehen 30 Minuten zu telefonieren. Doch, das geht.



Haben Sie jemanden, den Sie anrufen können, wenn Sie in seelischer Not sind?


Ja. Zum Glück habe ich mein Leben lang immer einen oder zwei Menschen gehabt, die mir so vertraut waren, dass ich mit ihnen über alles sprechen konnte.

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In 20 Jahren Domian haben Sie sich von mehr als 20 000 Anrufern Probleme erzählen lassen. Leiden Sie mittlerweile unter Mitgefühlsmüdigkeit?


Im Gegenteil. Ich werde dünnhäutiger und ringe in der Sendung öfter mit den Tränen als vor zehn, 15 Jahren. Vielleicht liegt es am Altwerden, vielleicht an meiner spirituellen Suche.



Sie sind Zen-Buddhist und lesen Mystiker wie Teresa von Avila, Johannes vom Kreuz und Meister Eckhart.


Zen ist bei mir Teil jedes Atemzuges. Ich versuche, gemäß dieser Philosophie zu handeln und zu urteilen, aber erklären kann ich sie nicht. Fragt man einen Zen-Meister, was Zen lehrt, lautet die Antwort: nichts. Die zwei großen Säulen des Zen sind Mitgefühl und die unbedingte Achtung allen Lebens. Wenn überhaupt, lehrt Zen uns die Gegenwart und den Moment. Die einzige Wirklichkeit, die der Mensch hat, ist das Jetzt, und nur darum geht es. Die Vergangenheit ist schon im Besitz des Todes und die Zukunft nichts weiter als eine Illusion. Wenn ich versuche, danach zu leben, lebe ich klarer und angstloser. Ich mache mir kaum noch Gedanken über die Zukunft und verschwende keine Zeit mehr, mich mit meiner Vergangenheit zu beschäftigen.



Obwohl Ihre Quoten konstant sind, wollen Sie Ende 2016 mit Domian aufhören. Warum?


Ich möchte öfter die Morgensonne sehen. Im Winter lebe ich mit ein, zwei Stunden Tageslicht. Das schlägt einem aufs Gemüt. Außerdem will ich meinen Gesprächspartnern endlich mal ins Gesicht sehen, statt mit ihnen zu telefonieren. Ich experimentiere gerade mit Atze Schröder, der hinter seiner Proll-Figur ein sehr belesener und ausgesprochen feinsinniger Mensch ist. Mit ihm als zweiten Host könnte ich mir eine neue Talksendung vorstellen.


Hat es etwas zu bedeuten, dass es außer Anne Will keinen offen homosexuellen Talk-Host gibt, der es in die A-Liga geschafft hat?


Das hat eine Menge zu bedeuten. Warum gibt es in den oberen Etagen des Fernsehens keine offen schwul lebenden Journalisten, Moderatoren oder Sportreporter? Zufall kann das nicht sein. Lesbische Frauen, die wie Anne Will mit ihrem Privatleben sehr zurückhaltend sind, nehmen die TV-Gewaltigen nicht so ernst. Lesbische Liebe löst in der Gesellschaft weniger Provokationen aus als die Liebe unter Männern.



Sie arbeiten seit einigen Jahren ehrenamtlich in einer Kölner Palliativstation. Wie hat diese Arbeit Ihr Verhältnis zum Tod verändert?


Die ständige Präsenz des Todes hilft zu begreifen, dass Tod und Leben eine Einheit sind. Die Beschäftigung mit dem Zen-Buddhismus hat mir letztendlich die Angst vor dem Tod genommen. In einem Koan fragt ein Schüler, ob es ein Leben nach dem Tod gebe. Der Zen-Meister antwortet: »Ich war noch nicht tot.«

 


Jürgen Domian
Während er in Köln Germanistik, Philosophie und Politik studierte, suchte Jürgen Domian einen Nebenjob und bewarb sich beim WDR als Kabelträger. Als er bei einem seiner ersten Einsätze Alfred Biolek in Bio’s Bahnhof erlebte, war für ihn klar, dass er eine Talksendung leiten wollte. Nach einem Volontariat moderierte er ab 1993 die Radiosendung Die Heiße Nummer. Im April 1995 wurde die erste Ausgabe von Domian ausgestrahlt. Die einstündige Sendung beginnt nachts um ein Uhr und läuft gleichzeitig in Radio und Fernsehen. 2016 will der 57-Jährige Bundesverdienstkreuzträger mit Domian Schluss machen.

Quelle: http://sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/43205 und "Süddeutsche Zeitung Magazin" Nr. 24 vom 12. Juni 2015 Seite 12 bis 19.