Fundstücke
Ich war Wiener und ich habe getrunken
Der Künstler Herman Nitsch über das Überleben nach dem Tod seiner ersten Frau
Hermann Nitsch, 73, ist berühmt für seine Kunstaktionen mit Tierkadavern, Exkrementen und Blut. Seit den 50er Jahren ist es sein Ziel, mit Sinneseindrücken und Extremerfahrungen Verdrängtes zu thematisieren. Er war und ist sehr umstritten und zugleich ein anerkannter Künstler.
Von Herlinde Koelbl im "Zeit-Magazin" interviewt, erzählt Nitsch, was ihn nach dem Tod seiner Frau rettete.
"Zeit-Magazin":
Herr Nitsch, Sie deuten das Leben als Passion: Leidenschaft und Leidensweg zugleich. Welches war der große Schmerz in Ihrem Leben?
Hermann Nitsch:
Das war der Tod meiner Frau Beate. Fast zehn Jahre waren wir verheiratet, sie war nur einen Tag jünger als ich, bei ihr habe ich mich geborgen gefühlt. 1977 ist sie bei einem Verkehrsunfall gestorben, plötzlich war ich nur noch eine Hälfte.
"Zeit-Magazin":
Was hat Sie aus diesem Schmerz gerettet?
Nitsch: Ich bin Wiener, noch dazu aus dem Weinviertel, und habe immer gerne getrunken. Nach dem Unfall noch viel mehr, aber ich hatte nie Kater – mein Körper, mein psychophysischer Organismus, hat das zum Überleben gebraucht. Es hat mich gerettet.
"Zeit-Magazin":
War Ihnen der Alkohol auch in anderen Nöten eine Hilfe?
Nitsch: Schon in meiner Jugend. Durch die sehr bürgerliche, liebevolle Erziehung meiner Mutter quälte mich schon als 15-Jähriger eine Herzneurose, also die Angst, dass mein Herz versagt. Ich war ein ruhiges, verweigerndes Kind, habe tiefenpsychologische Literatur studiert. Und mit einer selbst entworfenen Alkoholtherapie konnte ich mich vom ärgsten Zwang dieser Neurose befreien.
"Zeit-Magazin":
Sie haben gezielt Ihren Geist beeinflusst?
Nitsch: Mit 15 habe ich zum ersten Mal empfunden, was mir der Alkohol vermitteln kann: Unterhalb der Schule war ein Gasthaus, da tranken wir immer einen halben Liter dunkles Bier mit einem Achtel Stroh-Rum. Im Regal sah ich schöne Flaschen – und plötzlich habe ich die Existenz dieser Flaschen gespürt. Ich spürte, es gibt sie, es gibt überhaupt Dinge. Etwas ist. Durch diesen Rausch habe ich mein Sein erfahren. Das ist mir bis heute die große Faszination, dass etwas ist und nicht nichts ist.
"Zeit-Magazin":
Sind Sie durch diesen Rausch auch zur Kunst gelangt?
Nitsch: Das nicht, aber zu dieser Zeit habe ich im Oberen Belvedere zum ersten Mal Schiele-Bilder gesehen. Mich faszinierte, dass es Bereiche der Liebe und der Sexualität gibt, von denen ich keine Ahnung hatte. Als mich dann die Graphische Lehr- und Versuchsanstalt in Wien aufnahm, hat das mein ganzes Leben verändert. Ich habe die alten Meister gesehen, Tizian, Rembrandt, El Greco, für mich ist durch die Kunst ein Tor aufgegangen. Nach dem Tod meiner Frau half mir die Kunst, langsam wieder zu mir zu kommen, und später der Beistand meiner jetzigen Frau. Mich hat aufgebaut, dass meine Arbeit permanent Widerstände auslöste: Das zeigte mir, ich habe einen Nerv getroffen.
"Zeit-Magazin":
Mit Ihren blutigen Aktionen waren Sie verfemt. Heute sieht man Sie in Museen und am Burgtheater. Sind Sie angekommen?
Nitsch: Es gibt kein Ankommen. »Der Weg ist das Ziel« ist ein wunderbarer Spruch. Das Ziel ist ein ewiges Sich-Wiedergebären in Raum und Ewigkeit und Unendlichkeit.
"Zeit-Magazin":
Sind darum Tod und Auferstehung Ihre Leitthemen?
Nitsch: Die ganze Tier- und Pflanzenwelt ist eine Wiederkehr. Nietzsche hat geschrieben, er sei schon mal alles gewesen: Er war Cäsar, er war Cosima Wagner, er war in allen Dingen und wird in allen Dingen sein. Ich glaube auch, dass ich in meinem Leben alles schon war und alles auch mal sein werde, was es je gibt.
"Zeit-Magazin":
Aber was fasziniert Sie so an Blut, Kot und Eingeweiden? Ihre Mysterienspiele lösen bei vielen Ekel und Abscheu aus.
Nitsch: Mir geht es um ein intensives sinnliches Erleben. Unsere Zivilisation und die Religion wollen verdrängen. Es wird geleugnet, dass wir tote Tiere essen, das wird hygienisch und ästhetisch verpackt. Aber Verdrängung führt zu Neurosen: Unsere Gesellschaft ist ja voll Sensationslust, bei Unfällen, bei Kriminalfilmen. Da ist ein Bedürfnis nach Hass, Gewalt, Krieg. Die Menschheit wünscht sich den Exzess als Abreaktion herbei, bewusst oder unbewusst. Dem versuche ich am Theater eine Möglichkeit zu geben, sodass das Publikum eine Art Daseinsrausch erfahren kann.
"Zeit-Magazin":
Sie selbst auch?
Nitsch: Ich muss viel und intensiv genießen, ich möchte innig und herzlich und wollüstig hier sein. Exzess muss ja nicht mit Beischlaf oder dem Zerreißen von Fleisch zu tun haben, auch die Seerosen von Monet sind ein Exzess. Oder Bruckners Achte : Wenn man da seine Ohren öffnet und dem Eindruck so hingegeben ist, dass man es als Exzess wahrnimmt, das kann man fast mit einem Orgasmus vergleichen, mit sich wälzenden Frauen oder Knaben oder was weiß ich.
"Zeit-Magazin":
Sie haben in Gedärmen gewühlt, Blut verspritzt. Gibt es etwas, was sie ekelt?
Nitsch: Ja. Wenn sonntags die Autobahnen voll sind mit Urlaubern oder wenn Fußballweltmeisterschaft ist und die Leute nichts anderes im Hirn haben als Sport: Davor ekelt mir.
Das Interview finden Sie im Magazin der Zeit Nr. 43 vom 20.10.2011 auf der letzten Seite.