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Fundstücke

Die Erde ist ihr einziger Ort

 

Eine Person ist nicht nur ein Körper und ein soziales Wesen, sondern auch Teil einer kosmischen Ordnung. Das eröffnet ungeahnte Dimensionen von Zughörigkeit. Eine Überlegung von Sudhir Kakar - aus einem "Zeit"-Philosophie-Spezial

 

Ich zitiere nur einige Passagen des Textes. Die folgenden Absätze sind alle im Wortlaut von Sudhir Kakar, einem indischen Psychoanalytiker und Schriftsteller.

 

Im alltäglichen Leben ist die Seele keine inhaltsleere Abstraktion. Sie ist vielmehr in jenen Augenblicken sinnfällig und greifbar, in denen wir ein Gefühl der Verwandtschaft über unsere Angehörigen hinaus verspüren, ein Gefühl von Zugehörigkeit, das nicht auf menschliche Wesen beschränkt bleibt, sondern sich auf die ganze natürliche Welt und über sie hinaus erstreckt.

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Andere verspüren die Seele im Gefühl einer tiefen Verbundenheit in Gegenwart großer Kunstwerke, im feierlichen Ernst sakraler Räume, oder sie erhaschen sie sogar im Nachklang der sexuellen Umarmung, wenn sich beide Körper voneinander gelöst haben und Seite an Seite liegen, aber noch nicht wieder wie zwei getrennte aufeinander reagieren. In solchen Momenten werden wir der Seele als einer verborgenen Kraft in unserem Selbst gewahr, die nicht ichbezogen, sondern ein Quell unseres höchsten Selbst ist.

Dies sind Momente eines stillen Hochgefühls, das sich dem freien Fließen der Empathie, der Teilhabe an einer Gemeinschaft verdankt und scharf von dem befriedigenden Höhenflug jenes Machtgefühls zu unterscheiden ist, das sich einstellt, wenn man die Welt versteht. Die Seele, heißt das, offenbart sich nicht nur begnadeten Mystikern in der Empfindung einer transzendentalen Einheit, einer Unio mystica; sie zeigt sich vielmehr in verschiedenen Abstufungen in einem Kontinuum, das uns allen zugänglich ist.

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Für mich sind folglich Toleranz, Mitleid und Empathie die Erscheinungsformen der Seele im alltäglichen Leben. Sie gehören zur Provinz der Seele und sind keine Schöpfung einer rationalen Ethik, zumindest nicht, wenn sie von der Erhabenheit der Liebe gestreift und durch Selbstlosigkeit geläutert wurden.

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Was der Poet Robert Frost über die Liebe gesagt hat, passt auch auf die Seele: Die Erde ist ihr einziger Ort, und ich wüsste nicht, wo sonst es ihr wahrscheinlich besser ginge.

 

 

Der ganze Text erschien wie gesagt im "Zeit"-Philosophie-Magazin Nr. 25 im Juni 2013 auf der Seite 17 und heißt: Was bleibt von der Seele?

 

Sudhir Kakar hat zuletzt veröffentlicht: "Die Seele der Anderen" im C. H. Beck Verlag.