Fundstücke
"Wissen Sie, ich kann meinen Tod denken"
Silvia Bovenschen im Gespräch mit Waltraud Schwab, veröffentlicht in der taz vom 28./29. Oktober 2017
Silvia Bovenschen war Literaturwissenschaftlerin, Schriftstellerin und Essayistin. Autorin der "Imaginierten Weiblichkeit". In diesem Interview mit Waltraud Schwab beschreibt sie unprätentiös den Unterschied zwischen Autorin und ihrem Werk.
Waltraud Schwab:
Ihr Buch mit dem Titel "Verschwunden" scheint wie eine Textcollage mit Notizen von Freunden, die erzählen, was verschwunden ist in ihrem Leben. Sie haben sie gar nicht gefragt, alle Personen sind Sie.
Silvia Bovenschen:
Schriftsteller werden oft gefragt, wiee viel von ihnen selbst im Buch ist - ja, wie viel soll sein? Alles. Und alles auch nicht. Das ist ja die Aufgabe, dass man von sich selbst absieht und in die Welt ausgreift. Man muss sich distanzieren und zugleich sich anverwandeln, sich die Fiktion zu eigen machen, und eine soziale und historische Fantasie entwickeln. Das ist Grundprinzip jeder Literatur. Aber ob sich das dann entfaltet in der Vorstellung derer, die es lesen, das ist eine Frage der literarischen Wirkmacht oder des literarischen Versagens.
W. Schwab:
Dieses Buch endet traurig.
S. Bovenschen:
Meine Bücher enden selten gut. Stellen Sie sich vor, Sie schreiben einen Roman, und da gibt es einen Helden. Was machen Sie mit dem? Überlegen Sie. Wie werden Sie den wieder los? Was ist der Schluss?
W. Schwab:
Der Schluss ist offen.
S. Bovenschen:
Das ist, was die meisten machen. Den glücklichen Ausgang muss man der Trivialliteratur gönnen.
W. Schwab:
Glücklich leben ist eine Utopie?
S. Bovenschen:
Gibt es ein glückliches Leben aufs Ganze? Da müsste man viel ausblenden. Etwa die Androhung, ein ganzes Volk atomar zu vernichten. Oder die Qualen der Tiere in den Fleischfabriken der Ernährungsmafia. Die Plastikkontinente auf den Meeren. Die Flüchtlinge, die im Mittelmeer ertrinken, und unendlich viel mehr. Das Mittelmeer, auf das ich mein Lebtag beglückt geschaut habe, jetzt ist es ein Grab. Das kann ich mir doch nicht verheimlichen. Was ich sage, hat nichts mit Pessimismus zu tun, es sind Realitäten. Ob ich dann klar sehe oder lieber ausblende, ist eine andere Frage.
W. Schwab:
Trotzdem baden Leute im Mittelmeer.
S. Bovenschen:
Die, die das machen, sind die blöd oder optimistisch?
W. Schwab:
Einige werden es ignorieren, einige werden sich von der Schönheit des Meeres verführen lassen.
S. Bovenschen:
Und was haben Sie mir damit gesagt?
W. Schwab:
Dass man auf zwei Hochzeiten tanzen kann.
S. Bovenschen:
Ja, ist ja gut. Ich sitze hier fröhlich, dabei hab ich nicht viel Grund, fröhlich zu sein. Ich sorge mich mehr um die anderen als um mich. Bei mir ist nicht mehr viel zu holen.
W. Schwab:
Warum sagen Sie das? Sie schreiben ein Buch.
S. Bovenschen:
Ja, aber ich denke nicht wie früher an eine weitere Zukunft. Denke nicht: Wenn ich das fertig habe, bringe ich es zum Verlag, später werde ich es in der Hand halten. Ich weiß noch, wie erstaunlich es war, als ich mein erstes Buch in der Hand hielt.
W. Schwab:
Weil Sie dadurch wussten, Sie existieren?
S. Bovenschen:
Nein, es gab mich auch ohne Buch, und ich existieren jetzt auch, wenn ich nicht schreibe, hier nur rumliege, wenn ich mit lieben Menschen spreche. Ich schreibe keine Bücher, um mich selbst zu verwirklichen. Ich schreibe sie, weil es mich erfreut, dass ich es noch kann. Wissen Sie, ich kann meinen Tod denken.
Silvia Bovenschen starb am 25. Oktober 2017 im Alter von 71 Jahren.
Ihr letztes Buch wird im Frühjahr 2018 erscheinen mit dem Titel: "Lug & Trug & Rat & Streben". Die Autorin warnte: Sie habe sich darin alles erlaubt.
Das ganze Interview können Sie nachlesen in der Wochenendausgabe der "taz" vom 28./29. Oktober 2017 auf Seite 12 und 13.